Einsatz beim Zugunglück von Eschede

Braunschweiger Helfer mit bei der Bergung der Toten

Am Mittwoch, den 03. Juni 1998, hörte der SEG-Leiter über Funk, daß die Feuerwehr MVP-Alarm ( "Massenanfall verletzter Personen", außerhalb Niedersachsens "MANV" ) ausgelöst hatte und die alarmierten Kräfte gemeinsam mit einem Löschzug in einen überörtlichen Einsatz schickte. Wenige Minuten später telefonierte der SEG-Leiter mit der Feuerwehr Hamburg, da die örtliche Helfervereinigung einen zweitägigen Ausflug nach Hamburg geplant hatte, auf dem auch die Technik- und Umweltwache der Hamburger Feuerwehr besichtigt werden sollte. Durch die Bemerkung "Was – das Braunschweiger THW ist noch nicht in Eschede?" erfuhr der SEG-Leiter von dem schrecklichen Zugunglück, das sich gegen 10.59 Uhr wenige Kilometer nördlich von Celle ereignet hatte.

Gegen 12.20 Uhr versuchte der SEG-Leiter in der THW-Geschäftsstelle nähere Auskünfte zu erhalten, doch diese war aufgrund eines landesweiten Dienstausflugs lediglich mit einer Person besetzt. Der Geschäftsführer befand sich zudem gerade in der Mittagspause, kehrte aber unverzüglich in die Geschäftsstelle zurück und verschaffte sich dann einen Überblick über die Aktivitäten des THW in Eschede.

Da bei Zugunglücken in der Vergangenheit oft Radlader benötigt wurden, um die Schadensstellen überhaupt zugänglich zu machen, wurden sofort Helfer alarmiert, die den Braunschweiger Radlader auf dem Tieflader verlasteten. Angefordert wurde der Radlader jedoch nicht. Stattdessen ging in der inzwischen besetzten Leitstelle des Ortsverbands die Bitte ein, LKWs zum Transport der Verstorbenen in die Pathologie der Medizinischen Hochschule Hannover ( MHH ) zu entsenden. Im Laufe des Nachmittags brachen Jugendbetreuer Bühner und Kraftfahrer Hauer mit dem LKW-Ladebordwand der Fachgruppe Logistik nach Eschede auf.

Gegen 20.00 Uhr informierte die Leitstellenbesatzung den SEG-Leiter, daß eine Einheit des Ortsverbands Braunschweig am kommenden Morgen gegen 06.00 Uhr nach Eschede aufbrechen sollte, um andere THW-Helfer abzulösen. Gemeinsam wurde eine Gruppe aus überwiegend erfahrenen und nur wenigen jüngeren Helfern zusammengestellt, da an der Einsatzstelle seelisch belastende Bilder zu erwarten waren. Gegen 06.00 Uhr rückte die Braunschweiger Einheit unter Führung des SEG-Leiters Kämpen nach Eschede ab.

Dort war wohl nicht alles koordiniert abgelaufen, denn als sich die Braunschweiger Helfer am Meldekopf einfanden, wurde der SEG-Leiter von einem früheren Lehrgangskollegen aus einem anderen Ortsverband mit den Worten begrüßt: "Macht erst 'mal langsam, wir sind auch schon 9 Stunden hier und haben die Einsatzstelle noch nicht gesehen!" Doch während die Braunschweiger Helfer noch ein Frühstück einnahmen, erhielten der SEG-Leiter und sein Stellvertreter Kettner bereits ihren Einsatzauftrag und eine Führung über die Schadensstelle. Die Braunschweiger Helfer bezogen danach umgehend den Aufstellplatz ihrer Fahrzeuge im Einsatzabschnitt "Süd" ( blauer Pfeil im folgenden Bild ). Nach einer kurzen Einweisung in die Schadensstelle und die bislang getroffenen Maßnahmen konnten sich die Helfer mit dem SEG-Leiter dann selbst ein Bild von der Lage machen.

Luftaufnahme der Schadensstelle vom 04.06.1998

Zeit gab es genug, denn der Einsatzauftrag für die Braunschweiger Helfer lautete, in der kommenden Nacht (!) die Beleuchtung der Einsatzstelle "Brücke" und des Hubschrauberlandeplatzes sicherzustellen; hierzu wurde den Helfern eine Fachgruppe Elektroversorgung untergeordnet. Bis 11.00 Uhr wurden zunächst Scheinwerfer am Hubschrauberlandeplatz aufgestellt und getestet, um die Arbeiten an der Einsatzstelle "Brücke" noch nicht zu stören – bis es plötzlich hieß, daß Bundeskanzler Kohl in Kürze in einem Hubschrauber vom Typ Puma erwartet werde. Der Rotorwind dieses Hubschraubers hätte die Stative mit den Scheinwerfern mühelos umwerfen können, so daß die Beleuchtung umgehend wieder zurückgebaut werden mußte. Klar, daß die Helfer Unmut über diesen "Polittourismus" bekundeten, zumal Ministerpräsident Schröder der Einsatzstelle später einen unauffälligeren Besuch abstattete. Gleichwohl waren viele der Helfer stolz, als sich der Kanzler unmittelbar nach seiner Landung aus der Gruppe seiner Bodyguards löste, auf die Braunschweiger Helfer zuging und mit diesen sprach.

Bundeskanzler Kohl bei den Braunschweiger Helfern

Erst nach dem Abflug des Bundeskanzlers konnten die Scheinwerfer am Hubschrauberlandeplatz wieder aufgestellt werden. Problematisch war, daß die Deutsche Bahn AG immer wieder – an der Einsatzleitung vorbei – an das THW mit der Bitte herantrat, irgendwelche kleineren Hilfeleistungen vorzunehmen. Mal waren es ein paar Bäume, die zu entfernen waren, mal der Transport irgendwelcher Trümmerteile. Hier war darauf zu achten, daß der Dienstweg eingehalten wurde, zumal die Staatsanwaltschaft die Trümmer bislang noch gar nicht freigegeben hatte.

Der SEG-Leiter hatte seinen Helfer Giem beauftragt, die Beleuchtung der Einsatzstelle "Brücke" bis 18.30 Uhr aufgebaut zu haben und anschließend kurz zu testen. Etwaige Probleme hätten so bis zum Eintritt der Dunkelheit spielend beseitigt werden können. Doch der Aufbau der Beleuchtung für den Abend füllte die Helfer nicht aus, und nichts ist schlimmer, als an einer Einsatzstelle nutzlos herumzustehen. Aus diesem Grund wurde mit dem Einsatzleiter der Berufsfeuerwehr Hannover, dem auch der Obermeisterlehrgang der Landesfeuerwehrschule Celle unterstellt war, vereinbart, die Braunschweiger THW-Helfer an der Trümmerräumung und Leichenbergung zu beteiligen.

Beseitigen der eingestürzten Brückenteile

Auch die Trümmerräumung verlief teilweise etwas unkoordiniert. Das Ziel vor Augen, die letzten Waggons unter der Brücke freizulegen, wurde manches Trümmerteil nur nach hinten weitergereicht – und dort später von anderen Einsatzkräften, denen nicht bekannt war, daß diese Teile schon einmal bewegt worden waren, erneut untersucht. Unnötige Doppelarbeit.

Immer wieder mußten die Arbeiten unterbrochen werden, wenn ein weiteres Teil der Straßenbrücke abgetrennt worden war und von den schweren Kränen an die Seite gehoben werden konnte. Feste Ablösezeiten für die Braunschweiger Helfer gab es nicht; jeder der – körperlich oder seelisch – Erschöpfung verspürte, konnte sich selbst aus dem Einsatzgeschehen herauslösen, sich zu den Fahrzeugen zurückziehen oder die reichlich angebotene Verpflegung zu sich nehmen. Klar, daß die Führungskräfte darauf achteten, daß auch alle ausreichend Pausen machten.

Feuerwehr und THW-Helfer Hand in Hand

Vor einigen Jahren hatte die THW-Helfervereinigung SEG-Helfern für ihre Feuerwehrdienste NOMEX-Einsatzjacken beschafft, und zwar – um sich ausreichend von der Braunschweiger Berufsfeuerwehr abzuheben – das Modell der Feuerwehr Hannover. Da der Einsatz in Eschede als SEG-Einsatz angesehen wurde, war diese Einsatzbekleidung auch dorthin mitgeführt worden. Verwechselungen mit den Hannoveranern blieben natürlich nicht aus, und auch als der SEG-Leiter und sein Stellvertreter dem THW-Landesbeauftragten Leiser und Hannovers Feuerwehrchef Lange einen Besuch abstatteten, hätten sie die Kleidung besser vorher abgelegt. Doch angesichts des Schadensbildes waren solcherlei Probleme ganz unbedeutend ...

Die Bergungsarbeiten zogen sich bis nach Mitternacht hin, und es darf mit einigem Stolz festgehalten werden, daß die gesamte Einsatzstelle dank der Braunschweiger Helfer hervorragend ausgeleuchtet war. Erst gegen 02.30 Uhr wurden die Arbeiten bis zum nächsten Morgen eingestellt. Doch schon zuvor hatten die Braunschweiger Helfer die Gelegenheit erhalten, sich für die Nacht in die rund einen Kilometer von der Einsatzstelle entfernte Turnhalle zurückzuziehen, um zu essen und sich auf Feldbetten zur Ruhe zu legen. Lediglich die SEG-Leitung schlief in den Einsatzfahrzeugen, damit sich die Ausstattung über Nacht nicht vermehrte ...

Am Freitag wurden die Arbeiten erst gegen 11.30 Uhr wieder aufgenommen. Vorangegangen war eine Besprechung der Einsatzleitung über das weitere Vorgehen. Für die Vertreter der Deutschen Bahn war die Wiederaufnahme des Schienenverkehrs offenbar das wichtigste Ziel, wodurch Streit mit der Feuerwehr programmiert war, die noch immer Leichenteile an der Einsatzstelle fand.

Gegen Mittag wurden die Braunschweiger Helfer von Kollegen des 2. Technischen Zuges unter Leitung von Zugführer Brandes abgelöst. Zu diesem Zeitpunkt war in der östlichen Brückenrampe in zwei Meter Tiefe (!) noch ein Radsatz entdeckt worden, so daß nicht ausgeschlossen werden konnte, daß dort auch noch Menschen begraben sein konnten. Zwar konnte sich niemand vorstellen, daß beim Aufprall des Zuges solche Kräfte geherrscht haben – es ist aber auch nur schwer nachvollziehbar, warum von rund 2000 Helfern und Ermittlern kein einziger auf die Idee gekommen war, einmal die Radsätze der Waggons auf Vollständigkeit zu überprüfen. Die neuen Helfer bekamen den Auftrag, den Boden am Fundort des Radsatzes Schaufel für Schaufel zu durchsieben. Bei dieser Tätigkeit waren die Helfer einer so großen seelischen Belastung ausgesetzt, daß sie ebenfalls noch am gleichen Tag wieder nach Braunschweig zurückkehrten.

Nach zwei Tagen Ruhe wurde dann doch noch der Radlader des Ortsverbandes für Räumarbeiten benötigt, so daß am 08. Juni noch zwei weitere Helfer nach Eschede aufbrachen. Auch Ihr Einsatz war aber am selben Tage beendet. Kurz darauf wurde der Verkehr auf der Bahnstrecke wieder aufgenommen. Wesentlich länger dauerte es, bis die Helfer ihre Eindrücke verarbeitet hatten. Den Geruch über der Einsatzstelle oder das monotone Geräusch des Hydraulikhammers auf der Brücke werden sie ihr Leben lang nie vergessen ...

Einsatzbericht: Jan Kämpen ( Stand: 31.07.2001 )